Review: Gesellschaft ohne Haltegriffe

Dieser Beitrag widmet sich einer Besprechung von Martin Liebmanns Buch mit dem Titel ›Gesellschaft ohne Haltegriffe. Werte im Widerspruch‹, erschienen im Komplett-Media Verlag im November 2020.

Review

Liebmann, Martin: Gesellschaft ohne Haltegriffe. Werte im Widerspruch. München: Komplett-Media Verlag, 2020.

Martin Liebmann gelingt in seinem neuen Buch ein erzählerisches Projekt, das sich andernorts allzu oft im schwierigen Balanceakt zwischen den Übeln der Unklarheit und Selbstüberschätzung auflöst. Der Autor meistert diese Hürde in seinem Versuch der Grundlegung einer offenen Diskussionsbasis über Werte und die Gestalt einer zukunftsfähigen Gesellschaft, indem er zahlreiche erzählerische Fäden um das Kernthema der Haltlosigkeit zu einem Ganzen verbindet.

Diese Fäden bestehen aus einer einzigartigen Entstehungsgeschichte des Buchs auf der Grundlage des vom Autor gegründeten Lübecker Werteforums sowie der damit verbundenen Projekte, den häufigen biographischen Schilderungen persönlicher Erfahrungen, und nicht zuletzt der Vielfalt an thematischen Bezügen.

In der Art wie diese erzählerischen Fäden verwoben werden, zeigt sich der Anspruch und die sich selbst zugeordnete Rolle des Buchs: Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Grundlegung, nicht um eine ausgereifte Theorie der Werte und Gesellschaft, sondern um einen Diskussions-Entwurf in Bezug auf das Vorkommen von Werten und ihren Widersprüchen innerhalb unserer modernen Gesellschaft, die auf verschiedene Weisen zum Anlass erheblicher Haltlosigkeit geworden sind und aufgelöst werden müssen (S. 12f.).

Der zentrale Gedanke dieses Entwurfs spiegelt sich im Konzept der autonomen Lebenswelten wider und erinnert stark − jedoch ohne explizite Nennung − an den in soziologischen Systemtheorien von Talcott Parsons und Niklas Luhmann verwendete Konzept der funktionalen Differenzierung in Teilsysteme der Gesellschaft.

Der Autor betont, dass sich erst im Zuge der Aufklärung jene Teilsysteme der Gesellschaft ausdifferenziert haben (S. 62), die wir im 21. Jahrhundert selbstverständlich als eigenständige, sich selbst verwaltende und eigenen Regeln folgende Systeme wahrnehmen: Privatleben, Religion, Wissenschaft und Bildung, Künste, Wirtschaft, öffentliche Verantwortung und Freizeit − ihnen allen zugrunde liegt die Natur als Fundament (S. 13). In je eigenen Kapitel wird in diese Lebenswelten eingeführt und die mit ihnen verbundenen Problematiken skizziert.

Im Zentrum steht dabei die Annahme, dass die autonomen Lebenswelten als Teilsysteme der Gesellschaft jeweils einen eigenen zentralen Wert in ihrem Zentrum beherbergen und sich wiederum anhand von sieben Dimensionen charakterisieren lassen: Grundwert, Erfahrungsschwerpunkt, Handlung, Ausdruck, Eigenzeit, Grundenergie und Institution (S. 104f.). Dabei folgen die Lebenswelten explizit keiner Hierarchie, sondern bilden eigenständig wertvolle Fragmente für ein gutes und gelungenes Leben.

Am Beispiel des Privatlebens ergibt sich folgende Charakterisierung: Das Privatleben dreht sich angefeuert durch das biologische Grundbedürfnis des Schutzes und der Fortpflanzung (Grundenergie) um den Wert des Vertrauens (Grundwert) im Rahmen der Familie und Intimität (Institution), wird unmittelbar (Eigenzeit) durch die Handlung des Liebens und Sorgens (Handlung) in der Hingabe und Geborgenheit erfahrbar (Erfahrungsschwerpunkt) und drückt sich deshalb im Gefühl aus (Ausdruck) (S. 35).

Es ist die mangelnde Berücksichtigung bestimmter Lebenswelten und den mit ihnen verbundenen Werten, sowie die Dominanz mancher Lebenswelten und ihrer Auswüchse, das sich in einer Verwirrung um Werte und einer generellen Haltlosigkeit gesellschaftlicher Orientierung niederschlägt. Dies sei ein wesentlicher Bestandteil zahlreicher zeitgenössischer (Gesellschafts-)Probleme, deren Auflösung im gelungenen Diskurs über Werte und ihre jeweilige Stellung in den Teilsystemen der komplexen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts liegen könne (S. 73, 107f.).

Konsequenterweise erschließt sich die Rolle des Buchs darin, einen gedanklichen Anstoß für das heutzutage oft vermisste aber umso stärker nötige Gespräch über Werte zu liefern, das nicht immer wieder Streitigkeiten entfacht, sondern tatsächlich gelingen kann. Die entscheidenden Fragen des Lebens sollen entgegen den Übergriffen jener teils fetischistisch, teils fanatisch verfolgten Digitalisierung und Ökonomisierung auf alle Bereiche des menschlichen Lebens wieder dorthin geführt werden, wo sie eigentlich hingehörten, nämlich „in den gesellschaftlichen Diskurs“ (S. 146).

Eine zukunftsfähige Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle ermöglicht, muss damit beginnen, dass die Verzweckmäßigung und Kommerzialisierung bestimmter Werte und Lebenswelten aufgrund der Dominanz anderer Lebenswelten beendet wird. Es müsse ausdiskutiert und Einigung darüber gefunden werden, wo, wie und wann eine spezifische Lebenswelt agieren und Einfluss üben soll oder eben nicht.

Anhand dieser Rolle des Buchs zeigt sich zugleich dessen grundlegende Einladung, sich gemeinsam im deliberativen Prozess der Diskussion und Begegnung wiederzufinden und aktiv einzubringen. Es kann demnach zurecht kein fertiges Ergebnis geboten werden, denn eine solche einfache Lösung sei unmöglich, letztlich einseitig und verblendet.

Stattdessen macht der Autor darauf aufmerksam, dass der Weg der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich bestenfalls von Haltegriff zu Haltegriff entlangbewegt, zu einer zukünftigen Gesellschaft, die keine Haltegriffe mehr bedarf, da sie selbst einen sicheren Hafen darstellt, nur prozesshaft durch den Zusammenschluss der Gemeinschaft ausdiskutiert werden könne (S. 20f.).

Es ist eine Stärke des Buchs, sich dieser Rolle und dem eigenen Anspruch stets bewusst zu sein. Die zahlreich angeführten Beispiele, die Verweise auf vielversprechende Projekte und schlicht die Art, wie über diese berichtet wird, erfüllen den Zweck, einem breiten Publikum die Teilhabe an den Prozessen der Deliberation schmackhaft zu machen sowie diese Perspektive überhaupt erst offenzulegen. Es wird motiviert, sich mit Werten auseinanderzusetzen, sie in ihren eigenen Lebenswelten zu erkennen und sich in einem Prozess der Diskussion einzubeziehen.

Diskussion

1) Kontingente Lebenswelten

Bei der Beschreibung des Zustandekommens der sieben autonomen Lebenswelten zu Beginn des Buchs − und zwar durch ein Bottom-Up-Verfahren, indem Knotenpunkte gesellschaftlichen Lebens auf dem Stadtplan von Lübeck markiert und ausgefiltert wurden − vermisst man eine naheliegende Notiz, die erst am Ende des Buchs Erwähnung findet.

Die Festlegung auf genau sieben autonome Lebenswelten ist eine mehr oder weniger willkürliche, jedenfalls anfechtbare Festlegung, was der Autor am Ende des Buchs auch zugibt: „Selbstverständlich gibt es noch etliche andere Werte als diejenigen, die in diesem Buch als Grundwerte der autonomen Lebenswelten vorgestellt wurden. Und innerhalb der Lebenswelten gibt es auch sehr unterschiedliche Institutionen und Erscheinungsformen, die sich nicht über einen Kamm scheren lassen“ (S. 169).

Abgesehen von der Kontingenz innerhalb der Auswahl der Lebenswelten besitzt die Methode einen systematischen Defekt: Sie diktiert Lebenswelten, die sich in einer westlichen Gesellschaft im Zuge der Entwicklung der Aufklärung herauskristallisiert haben. Natürlich gibt es Überschneidungen von Lebenswelten über Kulturen hinweg − so findet man etwa die Lebenswelt der Religion allgegenwärtig.

Begibt man sich jedoch von einer allgemeinen Ebene der Lebenswelten hinab in ihre spezifischen Details, so sind die kulturellen Differenzen gravierend und die Gefahr groß, dass unsere Auswahl von Lebenswelten nichts als Kultursplitter bleiben, die in einer sich immer stärker vernetzenden Welt jedoch nichts taugen.

Kunst, Religion, Freizeit, Bildung etc. erfüllen in verschiedenen Teilen der Welt verschiedene Funktionen und zeigen sich in verschiedenen Ausdrücken. Zudem muss man einsehen, dass obwohl es möglichweise sinnvoll ist, keine Hierarchie zwischen Lebenswelten aufzubauen, dies de facto insbesondere im Kontrast zwischen Kulturen vorkommt: Dies zeigt sich im Vergleich von kollektivistischen und individualistischen Kulturen, die wohl die Lebenswelten der Freizeit (Individualität) und der öffentlichen Verantwortung (Gemeinwohl) anders gewichten [1]. Selbst wenn wir keine absolute Wertehierarchie annehmen, so zeigt der Kontrast zwischen Kulturen deutlich, dass wir implizit von einer relativen ausgehen.

Doch selbst innerhalb einer Kultur kann es starke Differenzen bei der Betrachtung einer Lebenswelt geben: Was würden Atheist*innen und konfessionsfreie Personen sagen, wenn es heißt, dass es die Lebenswelt der Religion sei, die den Wert ›Sinn‹ annimmt? Besitzt die Religion ein Monopol auf Sinnstiftung? Das Problem der Religion als Lebenswelt greife ich im zweiten Teil der Rubrik ›Diskussion‹ auf.

Ebenso wie die Theorie der funktionalen Differenzierung von Parsons, Luhmann und anderen Vertreter*innen sieht sich auch Liebmanns Entwurf nicht weniger mit dem Problem konfrontiert, welche Teilsysteme der Gesellschaft als solche gelten sollen und wie diese zudem inhaltlich spezifiziert werden [2]. Dies ist eine grundsätzliche Herausforderung an alle systemtheoretischen Überlegungen.

Darüber hinaus besteht der systematische Defekt der gewählten Methode darin, dass man lediglich historisch geformte Schauplätze des gesellschaftlichen Wirkens zur Grundlage nimmt, von denen ausgehend man auf bestimmte Motive und Bedürfnisse abstrahiert. In anderen Worten: Im Buch wird der Eindruck erweckt, dass die Lebenswelten vor ihren jeweiligen Grundenergien, d.h. ihren Antrieben und Quellen, gedacht werden − dabei wäre der Entwurf flexibler, wenn die jeweiligen Antriebe in den Vordergrund gerückt werden. Schließlich strebt der Mensch zur Wissenschaft, weil er über die Welt staunt, eine tiefe Neugier verspürt und so weiter.

Kehrt man die Betonung der inneren Struktur einer Lebenswelt demgemäß um, so wird der Entwurf flexibler und kulturübergreifend besser handhabbar. Wir wären nicht mehr mit dem Problem konfrontiert, etwa in der Bezugnahme auf die Lebenswelt der Religion zunächst klären zu müssen, was dieser Lebenswelt angehört, da wir sie in einer Kultur als Religion identifizieren müssen, um darüber überhaupt sprechen zu können.

Uns bliebe stattdessen lediglich zu sagen, dass wir in Deutschland, Europa etc. das, was wir als Religion verstehen, deshalb betreiben, weil wir eine universelle Erfahrung der Angst, Hoffnung und Freude verspüren. Diese Erfahrung äußert sich in unserem Fall in der Lebenswelt der Religion, die sich in einer bestimmten Weise ausgestaltet hat − dies muss aber nicht notwendigerweise gelten.

Neben dieser ersten Anmerkung gibt es einen weitaus gravierenderen Einwand bezüglich der inneren Struktur der Lebenswelten und damit einen deutlicheren Anlass, diese auf zentrale Weise anhand ihrer jeweiligen Grundenergien zu beschreiben.

2) Das Problem der Religion

Grenzt man Lebenswelten als historisch geformte Teilsysteme der Gesellschaft ein, denen man zusätzlich Autonomie zuschreibt und sie anhand von bestimmten Merkmalen klar charakterisiert, so scheint man zwingend an ihre Historizität gebunden zu sein. Besonders mit Blick auf die Religion halte ich die Ausformulierung dieser Lebenswelt für schwach und mit einem inhärenten Widerspruch versehen.

Widersprüchlich ist die Ausformulierung aufgrund ihrer Bindung an die Historizität der Religion − ein Aspekt, den die meisten Vertreter*innen religiöser Gemeinschaften selbst nicht aufgeben wollen − und der gleichzeitigen Abkehr von der Historizität der Religion durch eine romantische Vorstellung derselben.

Indem der Autor Religion im Sinne Schleiermachers aufgreift und von ihr deshalb nichts weiter übrigbleibt als das grandiose Gefühl und Anschauen der Unendlichkeit, wird sie ein abstraktes und künstliches Konstrukt, das nur dort mit den eigenen historischen Wurzeln verbunden bleiben soll, wo es noch angenehm zu sein scheint und auf halbwegs vernünftige Weise vertretbar ist.

Es ist derselbe Vorwurf, den man an Paul Tillich richten kann, wenn dieser Folgendes festhält: „Religion im weitesten und fundamentalsten Sinn ist Ergriffensein von etwas, das uns unbedingt angeht“ [3]. Wird Religion nur als Antwort auf die existenziellen Nöte des Menschen und nur als Gefühl und Staunen vor der Existenz betrachtet, bleibt sie abstrakt und von ihrer historischen Form entbunden.

Warum dann überhaupt noch auf Religion bestehen, wenn sie von ihrer Geschichte losgelöst wird und sich langsam ohnehin einem Humanismus anpasst? Dass die Religion im Zuge der Aufklärung im Westen ihre Allmacht verloren hat, macht diese als autonome Lebenswelt möglich, stellt aber zugleich die wichtige Frage, was Religion − vor allem im 21. Jahrhundert − noch ist.

Schließen wir uns jener möglichen Perspektive von Atheist*innen und konfessionsfreien Personen an, dass Religion eben keine eigentümliche Funktion für Sinnstiftung zugeschrieben werden kann, geschweige denn ein Wahrheitswert oder eine moralische Autorität, so wird die Schwäche der Ausformulierung der Lebenswelt ›Religion‹ deutlich.

Diese kommt deshalb zustande, weil die Lebenswelten historisch abgeleitet werden. Religion scheint im Westen des 21. Jahrhunderts keineswegs notwendig zu sein und überspannt ihren Anspruch auf Sinnstiftung. Diese Lebenswelt muss man deutlich über die Religion hinaus auffassen.


Quellen und Verweise

[1] Siehe: Kitayama, Shinobu; Markus, Hazel R.: Culture and the Self: Implications for Cognition, Emotion, and Motivation, in: Psychological Review, Vol. 98, Nr. 2, 1998, S. 224-253.

[2] Siehe: Berger, Johannes: Neuerliche Anfragen an die Theorie der funktionalen Differenzierung, in: Schimank, Uwe; Giegel, Hans-Joachim (Hrsg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013, S. 207-229.

[3] Tillich, Paul: Über die Grenzen von Religion und Kultur, in: Die religiöse Substanz der Kultur. Albrecht, Renate (Hrsg.). Band 9. Berlin/Boston: De Gruyter, 2020, S. 94.

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