Warum bilden Menschen das ab, wovor sie sich fürchten?

Warum finden wir seit jeher Darstellungen von Geister, Dämonen, Amuletten und einen damit verbundenen Glauben an die Wirkung von Schutzsigeln, Bannungsritualen etc.? Warum werden neben Wesen, die für gutartig befunden werden, auch bösartige abgebildet, wenn man sich vor diesen eigentlich fürchtet?

In Beschreibung des Menschen stellt Hans Blumenberg eine Theorie der Anthropogenese auf – einer Entwicklungsbeschreibung, wie der Mensch zum Menschen geworden ist –, die eine spekulative Beschreibung der Bedingungen der Möglichkeit von Artefaktanfertigung bietet.

Furcht habe der Mensch immer in Bezug auf etwas Konkretes, Angst hingegen immer in Bezug auf etwas Unbekanntes, was Blumenberg durch einen anthropologischen Bezug auf das Aufrichten des Menschen, den Wurf und seine perspektivische Beziehung zum Horizont begründet.

Furcht habe ich vor einer Gefahr, die ich erblicken kann, im offenen Horizont muss ich mich vor den Gefahren fürchten, die ich nicht erblicken kann, weil sie aus allen Richtungen kommen können – der aufrechte Gang bringe dieses Merkmal mit sich.

„Da [die Angst] die Vergegenständlichung oft nicht mehr leisten kann, zu denen sie phylogenetisch angetrieben hatte, verleitet sie zu Substitutionen von Gegenständen für das Unbekannte ihres vermeintlichen Gegenstandes. Sie schafft sich Rituale, die Dämonen zu bannen, den einen großen Feind zu benennen, die bildlose Macht durch Illustrationen zu besänftigen. […] Die Angst ist, wie die Sprache vorgibt, lähmend; noch deutlicher im Entsetzen. Das ist ein wichtiges Residuum jener entwicklungsgeschichtlichen Augenblicke, in denen Flucht unmöglich wurde, weil es keine Bestimmtheit über die Richtung der Flucht gab, ehe nicht Herkunft und Art eines Gegenstandes bestimmt werden konnten, mit dem Angst und Entsetzen verbunden waren. Die Angst lähmt, sie bannt an die Stelle, sie verhindert die Bewegung der Flucht, sie bietet gleichsam alles auf, damit sich das Subjekt seiner Aufgabe stellt, nicht anderes zuzulassen als Objekte.“ [1]

Wie lässt sich nun bspw. in der Kulturanthropologie erklären, dass in allen Kulturen Artefakte hergestellt wurden, die in Form von Amuletten o. Ä. zum Bannen von Geistern und Dämonen Verwendung finden?

Aus empirischer Sicht scheint diese Frage in einem gewissen Sinne nicht beantwortbar: Sie bedarf der emischen Perspektive, d.h. der Beschreibung menschlicher Praktiken aus der Perspektive der Handelnden, die ihre eigene Sinn- und Ausdruckskonstruktion vollziehen – jedoch bleibt diese Perspektive immer einem konkreten kulturellen Kontext verhaftet und ist somit nicht verallgemeinerbar

Blumenbergs deduktiver Entwurf lässt folgende Erklärung zu: Die ›unerklärlichen Kräfte‹ hinter unterschiedlichsten Phänomenen, die in Kulturen verschiedenartig aufgegriffen werden, z. B. Krankheiten, insbesondere psychische Erkrankungen, Wetter, Sterben usw. sind nicht fassbar. Sie erzeugten im Falle negativer Konsequenzen eine Angst vor dem Unbekannten, dem Unsichtbaren, das überall lauern und nicht beschrieben und benannt werden kann.

Die Angst vor dem Unbekannten wird durch die Materialisierung in eine Furcht vor dem konkreten Gegenstand, der den Geist, Dämon etc. repräsentiert und abbildet, reduziert. Die ausufernde Angst wird somit greifbar gemacht, indem sie zu einer Furcht wird, die man anhand eines konkreten Abbilds, eines einzelnen Dämons etc. benennen und damit auch durch Exorzismus oder Heilkunst behandeln kann.

Blumenberg leitet die Funktion dieser Praktik aus einem anthropologischen Merkmal ab, das wiederum nicht empirisch festzustellen ist. In der Tat muss Blumenberg eingestehen, dass seine Angst/Furcht-Theorie, ja seine gesamte Beschreibung der Anthropogenese als Aufrichten des Menschen basierend auf einer bereits zu seiner Zeit fragwürdigen Savannenhypothese ein vorläufiges Narrativ ist. Er betreibt narrative Philosophie auf Vorbehalt.

In vielen Bereichen der kulturanthropologischen Forschung sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass direkte Zugänge nicht möglich sind – es bleiben uns Spuren menschlichen Lebens und ihrer kulturellen Hinterlassenschaften, die sich in Bruchstücke mehr oder weniger sicheren Wissens über diese Kultur einfügen, das z. B. aus schriftlichen Quellen stammt.

Somit ist unsere Rekonstruktion menschlicher Praktiken stets durch neue empirische Befunde anfechtbar, wie es das klassische empiristische Paradigma natürlich vorgibt. Jedoch wird hierbei die Frage übersehen, wie in einer empirisch-geleiteten Rekonstruktion theoretische Standards vorab angenommen werden, die das Rekonstruieren überhaupt ermöglichen.

Quellen

[1] Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen. Sommer, Manfred (Hrsg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2020, S. 567f.

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