Esoterik als das verstoßene Wissen

Eine Wertung bzw. Beurteilung, ob wir die in esoterischen Lehren vorkommenden Vorstellungen und Konzepte für gut oder wahr erachten, muss in wissenschaftlichen Analysen ausgeklammert werden.

„›Esoterik‹ scheint ein schwer fassbarer Begriff zu sein, der sich auf ein nicht weniger schwer fassbares Studiengebiet bezieht. Der Begriff neigt dazu, in fast allen Köpfen starke Assoziationen hervorzurufen – manchmal positive, oft sehr negative – aber niemand findet es einfach zu erklären, was er bedeutet, geschweige denn, warum wir ihm ernsthafte Aufmerksamkeit schenken sollten. Tatsache ist jedoch, dass die ›westliche Esoterik‹ seit mehreren Jahrzehnten auf der Agenda der akademischen Religionswissenschaft steht und auch in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen immer mehr Beachtung findet. Hinter dieser Entwicklung steht eine wachsende Anerkennung, dass wir in unserer konventionellen Denkweise über die westliche Kultur und ihre Geschichte möglicherweise etwas Wichtiges übersehen haben. Neben den bekannten Säulen unserer offiziellen europäischen und amerikanischen kulturellen Identität – den normativen religiösen Traditionen des Judentums und Christentums, der rationalen Philosophie und der modernen Wissenschaft – scheint es noch eine weitere Dimension zu geben, über die wir normalerweise nicht so gut informiert sind.“ [1]

Die starken Assoziationen erschweren eine Auseinandersetzung mit Esoterik, da wir durch unsere Ablehnung oder unseren Zuspruch dazu neigen, bestimmten Verzerrungen anzufallen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Esoterik ist ein hervorragendes Lehrstück für die Praxis und Geschichte von Wissenschaft. Hierfür führe ich vier Denkanstöße ein:

1) Das, was als Esoterik, Pseudo-Wissenschaft etc. gilt, ist historisch variabel. Das, was wir aus heutiger Sicht unter ›Esoterik‹ ablegen, war zu anderen Zeiten Wissenschaft und vice versa.

Das heißt nicht, dass alles in der Wissenschaft irgendwie relativ ist – auf keinen Fall! Vielmehr verweist die Anerkennung dieses Zusammenhangs auf die immer stattfindenden Begründungszusammenhänge, in denen eine wissenschaftliche Wahrheitsfindung steht. Das, was wir heute für wahr halten, ist nie absolut wahr, in dem Sinne, dass es nie außerhalb anfechtbarer Begründungen steht.

2) Wenn wir etwas als Esoterik bezeichnen, haben wir bereits eine Grenzziehung vollzogen, die wir begründen müssen. Auch hier liegt ein sog. Demarkationsproblem ähnlich zur Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft vor. In diesem Sinne wurde und wird Esoterik weiterhin als ein Sammelbecken für all jene Formen des Denkens und Wissens verwendet, die im historischen Prozess der Wissenschaftsgenese aus verschiedensten Gründen ausgegrenzt, verstoßen und abgelehnt wurden. In vielen Fällen kann es hierfür gute Gründe geben, jedoch darf nicht unterschlagen werden, dass Wissenschaft insbesondere institutionell in Gefügen der Macht und der epistemischen Ungerechtigkeit steht und deshalb Abgrenzungen häufig mit ihnen verwoben sind – also nicht nur durch gute (wissenschaftliche) Gründe vollzogen werden.

3) Westliche Esoterik ist eine ausgeblendete Realität der europäischen Kulturgeschichte, die eine zentrale Stellung in der Renaissance und Aufklärung einnahm. In unserer eigenen Ideengeschichte neigen wir somit zu einer selektiven Wahrnehmung. Wir betrachten z. B. Francis Bacons Begründung der empirischen Methode oder Erasmus von Rotterdams Humanismus, aber blenden oft die Verstrickungen solcher Denker*innen mit, aus heutiger Sicht, esoterischen Inhalten aus. Nach welchen Kriterien treffen wir eine solche Auswahl? Warum neigen wir dazu, das Gedankengebäude von Denker*innen vergangener Zeiten nach den uns heute sinnvoll erscheinenden Maßstäben zu filtern?

Diese Tendenzen tragen dazu bei, dass wir besonders in der Philosophie oft ein äußerst merkwürdiges Bild vom Mittelalter und der Renaissance haben – wenn überhaupt irgendwas zwischen 400 n.u.Z. und 1500 behandelt wird.

4) Die Auseinandersetzung mit Esoterik hilft dabei, unsere eigenen Annahmen und Voraussetzungen kritisch zu hinterfragen, weil wir gezwungen sind, uns kritisch mit den eigenen Begründungsstrukturen zu beschäftigen. Wie wird wissenschaftliche Praxis in einem bestimmten institutionellen Rahmen als Wissenschaft legitimiert? Wie ist die Produktion von Wissen gestaltet? Nach welchen Kriterien unterscheiden wir, ob jemand sprechen darf, gehört werden darf, legitimationsfähig ist und Träger*in wissenschaftlicher Kompetenz ist – insbesondere die postkolonialen Theorien stellen diese Fragen in Bezug auf das hegemoniale System ›Wissenschaft‹ als Institution des Westens.

Diesen Diskurs vor allem auch innerhalb der europäischen Kultur- und Ideengeschichte zu analysieren (wer durfte in europäischen Wissenschaftsinstitutionen sprechen, forschen etc.) wäre ein wichtiger Schritt, um unser Verständnis von Wissenschaft von hegemonialen Legitimationsstrukturen zu befreien.

Quellen

[1] Hanegraaff, Wouter J.: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed. London: Bloomsbury, 2013, S. 1.

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