Existenzielle Indifferenz – Wer braucht schon Sinn im Leben?

Populäre Darstellungen zum Thema ›Sinn‹ tendieren zu einer pauschalen Gegenüberstellung zwischen Sinnkrise und Sinnerfüllung. Letztere wird angeboten, erstere soll überwunden werden. Diese Vereinfachung in einen Dualismus von Krise und Erfüllung wird der psychologischen Forschung zum Thema ›Sinn‹ nicht gerecht.

In Ratgebern wird das Phänomen der Sinnsuche hin zu einer individualistischen Orientierung unter Weltanschauungen verzerrt. Es gehe also darum, für sich den einen Sinn zu bestimmen, für den Gurus, Coaches oder auch Sekten und Religionsgemeinschaften gerne ein Monopol oder zumindest einen speziellen Zugang beanspruchen.

Die psychologische Sinnforschung weist diese Vorstellung von Sinn zurück, die auf dem Charakter einer Geheimlehre oder Einsicht der einen Wahrheit aufbaut. Sinnempfinden hat nichts Mystisches an sich, genauso wie es keinen fixierten Zustand beschreibt.

Sinn empfinden wir in unserem Alltag, in unserem alltäglichen Handeln, in dem, was wir tun und was wir sind, und zwar mehr oder weniger. Wie sinnvoll das eigene Leben empfunden wird, hängt auch von einer Vielzahl ökonomischer, sozialer, familiärer und gesellschaftlicher Faktoren ab: Welche Ressourcen können wir in Anspruch nehmen, um sinnstiftende Tätigkeiten auszuführen? Welche sinnstiftenden Beziehungen haben wir in unserem Leben? Welchen gesellschaftlichen Erwartungen und Vorschriften müssen wir uns gegenübersehen?

Zwischen Indifferenz und Suche

Neben einer hohen Ausprägung von Sinnempfinden oder dem Gegenteil, also einer Sinnleere, sind mindestens zwei weitere Ausprägungen zu unterscheiden, nämlich eine Sinnindifferenz und eine Sinnsuche.

Haben wir den Eindruck, dass unser Leben nicht sinnvoll ist ohne deshalb einem Leidensdruck zu unterliegen, besteht eine Sinnindifferenz. Ist dagegen der Leidensdruck hoch, können wir dadurch zu einer Suche nach Sinn motiviert werden: Unser Leben erscheint im Moment nicht sinnvoll, aber wir sind zuversichtlich, dass es sinnvoll sein kann und begeben uns dementsprechend auf eine Sinnsuche. Natürlich ist das nicht immer der Fall:

„Nicht jede Sinnleere schlägt sich in einer Sinnkrise nieder, lässt aufbegehren und motiviert zur Suche. Häufiger sieht man eine Art Indifferenz. Ungefähr ein Viertel aller Deutschen erfahren ihr Leben als sinnlos, haben aber kein Problem damit. […] Gar nicht so wenigen Menschen ist es offenbar nicht so wichtig, dass ihr Leben einen Sinn hat. Sie sind zwar nicht besonders glücklich mit dieser Haltung, aber sie leiden auch nicht darunter.“ [1]

Sinnindifferenz meint, dem als sinnlos empfundenen Leben in einer bestimmten Weise gleichgültig gegenüberzustehen. Natürlich treffen sinnindifferente Personen nicht einfach den Entschluss, dass ihnen das Thema ›Sinn‹ in ihrem Leben egal ist. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenwirken individueller Merkmale sowie sozialer und gesellschaftlicher Faktoren.

Eine Indifferenz gegenüber Sinn scheint z. B. eng mit Wohlstand in Verbindung zu stehen. Je wohlhabender eine Gesellschaft, desto verbreiteter ist die Indifferenz gegenüber Sinn. In Deutschland betrifft das knapp jede dritte Person aus der jüngeren Hälfte der Bevölkerung.

Der Zusammenhang von Sinnindifferenz und Wohlstand wird u.a. durch den Effekt der hedonistischen Tretmühle vermittelt: Jede anfängliche Zufriedenheit durch Wohlstand mattet ab und muss gesteigert werden. Das dauerhafte Streben nach immer mehr Wohlstand kann somit auch zu Unzufriedenheit führen.

Das ziellose Streben nach Wohlstand als ein Selbstzweck kann in eine Infragestellung des Sinns einer solchen Lebensorientierung führen. Die durch den errungenen Wohlstand ermöglichten Aktivitäten und Genüsse tilgen jedoch zumindest zeitweise den Eindruck der Sinnleere im eigenen Leben.

Zudem kann die Fülle an Lebensentwürfen zu einer Überforderung führen. In modernen Gesellschaften gibt es kein Monopol auf Sinnstiftung mehr, das z. B. durch ein religiöses Dogma festgeschrieben wird. Die vielfältigen Sinnangebote stellen sich oftmals zunächst als eine Herausforderung ein.

Vielen Menschen scheint es daher angenehmer, sich so lange wie möglich nicht hinsichtlich bestimmter Sinnoptionen festzulegen, womit die Suche nach Sinn endlos aufgeschoben wird. Hierdurch nimmt gleichzeitig die Indifferenz zu, da andauernd eine Relativierung angetroffener Sinnangebote getätigt wird.

Existenzielle Indifferenz kann eine Reaktion auf die sog. Quarter-Life-Crisis sein, die in modernen westlichen Gesellschaften in der Alterskohorte der 18-29-jährigen Personen besonders ausgeprägt ist. Zukunftsangst, finanzielle Sorgen, Einsamkeit, Frustration mit der Arbeitswelt, Identitätsunsicherheit, Zweifel an Lebensentscheidungen bilden sich in der Auseinandersetzung mit einer modernen Multioptionsgesellschaft heraus. Wird diese Auseinandersetzung abgewertet und relativiert, kann gegen die Fülle an Sinn-Versprechungen eine charakteristische Haltung der existenziellen Indifferenz die Konsequenz sein.

Früher oder später kann sich das Gefühl der Sinnleere dann doch melden und trifft auf ein fundamentales Problem. Familie, Beruf, Finanzen, Freundschaft scheinen nicht mehr sinnstiftend genug zu sein. Immer mehr Menschen scheint noch lange bevor sie in eine Midlife-Crisis hineinstolpern die Möglichkeit eines weit umfassenderen Sinns zu fehlen:

„Nicht mehr nur Teenager und Studenten scheinen vor dem echten Leben davonzulaufen, sondern jetzt auch Leute zwischen 20 und 40 − Leute, die es eigentlich besser wissen sollten, aber scheinbar keinen Alternativplan zu diesem Lebensentwurf haben. […] Das ist meine Generation − die Generation, die keine wirkliche Motivation zum Erwachsenwerden hat. Wir haben keine Kinder, die in uns Schuldgefühle aufkommen lassen, und keine Hypothek, die wir abbezahlen müssen. Unser Gesundheitswesen ist gut genug, um uns am Leben zu halten, und wir verdienen in unseren Jobs genügend Geld, um uns zu ernähren, eine Bleibe zu finden und die Körperhygiene nicht zu vernachlässigen. […] Wir sind die Generation, die nichts mehr mit sich anzufangen weiß, weil wir jetzt dazu gezwungen sind, die Realität den großen und allumfassenden Mythen vorzuziehen, die unsere Eltern auf den Weg der relativen Sicherheit und Anständigkeit gebracht haben. Wenn dir diese wegweisenden Mythen fehlen, woran kannst du dich dann noch orientieren, wenn du nach dem Hangover und der Ausnüchterung zurück zur Normalität kehren willst?“ [2]

Quellen

[1] Schnell, Tatjana: Psychologie des Lebenssinns. 2. Auflage. Berlin: Springer, 2020, S. 132.

[2] Martin, Clive: Eine Abrechnung mit der traurigen Generation der Ewig-Jungen, in: Vice, 03.12.2014. Abgerufen am 28.03.2023 unter: Link.

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