Schon mal von aztekischer Philosophie gehört?

Viele werden zunächst an grausame Menschenopfer und Kannibalismus denken, wenn von den Azteken die Rede ist. Dass gerade solche Fakten meist alles sind, was an uns von fremden Kulturen und Zivilisationen hängen bleibt, hat u.a. mit einer systematischen Verzerrung der (Philosophie)Geschichtsschreibung zu tun.

Herausforderung interkulturellen Philosophierens

Im Fall der Azteken, die im 15. Jahrhundert in Mittelamerika den Hochpunkt ihres Reichs besaßen, begann diese Verzerrung mit der spanischen Eroberung und Unterwerfung zwischen 1519-21. Alles, was die Christianisierung und Kolonialisierung überstand, unterlag im Verlauf westlicher Geschichtsschreibung einer zweiten Verzerrung.

Die im Vorfeld eingenommene Haltung, dass es so etwas wie Philosophie nur in der sog. westlichen Kultur geben kann, macht die Anerkennung anderer Philosophien unmöglich. Das Denken und die Geschichte nicht-westlicher Kulturen wird im Vorfeld exotisiert und höchstens im Sinne einer Weltanschauung interpretiert.

Dieses Interpretationsmuster verwehrt uns die offene Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum an Denktraditionen, die wir weltweit in der Geschichte vorfinden können. Der Philosoph James Maffie weist in der Einleitung seines Buchs Aztec Philosophy Understanding a World in Motion auf diese Probleme hin:

„Wie unzählige Gelehrte argumentiert haben, spielt die Philosophie eine entscheidende Rolle in der Selbstauffassung des modernen Westens und des nicht-westlichen Anderen. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als das Selbstverständnis des modernen Westens als rational, selbstbewusst, zivilisiert, kultiviert, menschlich, diszipliniert, modern und männlich im Gegensatz zum Nicht-Westen als irrational, appetitiv, emotional, instinktiv, unzivilisiert, wild, primitiv, unmenschlich, undiszipliniert, rückständig, weiblich und näher an der Natur […] Die Zweiteilung der westlichen Kultur zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie ist somit ein sozialhistorisches Werkzeug, das konstruiert wurde, um den Westen und seine imperiale Hegemonie zu feiern und zu legitimieren, während gleichzeitig „der Rest“ verunglimpft und seine Heteronomie legitimiert wird.“ [1]

Philosophen wie Hegel, Husserl, Rorty, Levinas und viele weitere haben die Exklusivität des philosophischen Denkens für die sog. westliche Welt betont, was immer mit einer Abwertung eines als fremd und anders empfundenen Denkens einhergeht.

Diese Überzeugung ist eng mit dem kulturellen Selbstverständnis des Westens verknüpft und am deutlichsten in den kolonialen Praktiken der volkskundlichen Studien im 19. und 20. Jahrhundert zu sehen.

Natürlich wurden diese Praktiken auch früher sichtbar: Wie es z. B. aus der Großen Debatte in Valladolid in den Jahren 1550-1551 hervorgehe, als König Karl V. einen ›Rat der Vierzehn‹ einberief, um die Fälle von Juan Ginés Sepúlveda – ein Aristoteles-Gelehrter -, und Bartolomé de Las Casas – der berühmte ›Verteidiger der Indianer‹ – anzuhören, um ein für alle Mal zu entscheiden, ob die Eingeborenen in Neuspanien rational waren oder ob sie gemäß der Theorie von Aristoteles als ›natürliche Sklaven‹ anzusehen seien [2].

Auch die moderne Ethnologie steht noch vor dem andauernden Problem, genau diese Überzeugungen in ihren Zugängen zu anderen Kulturen aufzudecken und zu überwinden.

Die Art und Weise, wie wissenschaftliche Forschung in Strukturen des Kolonialismus verwickelt ist, bleibt für viele der kolonisierten Völker der Welt eine prägende Erinnerungsgeschichte. Uns wohnt eine eigentümliche Haltung inne, dass wir allein durch einen flüchtigen Blick in andere Kulturen annehmen, alles zu wissen, was man über sie wissen kann [3].

Dies zeigt sich unter anderem in kurzschlüssigen Deutungen und Vereinfachungen, die wir durch eine Übertragung auf das uns jeweils bekannte Wissen durchführen: »Das klingt nach Aristoteles und der hat es besser gesagt!«

Interkulturelles Philosophieren ist eine Einladung zum Polylog auf Augenhöhe, in dem wir uns fremde Denktraditionen ohne vorgefasste Meinungen als das zu sehen versuchen, was sie sind.

Quellen

[1] Maffie, James: Aztec Philosophy Understanding a World in Motion. Boulder: University Press of Colorado, 2014, S. 6. Eigene Übersetzung.

[2] Vgl.: Whittaker, Catherine: Aztecs Are Not Indigenous: Anthropology and the Politics of Indigeneity, in: Annals of Anthropological Practice, 44(2): 173-179.

[3] Vgl.: Sanchez, Robert Eli (Review): Aztec Philosophy: Understanding a World in Motion, 2014. Abgerufen am 21.03.23 unter: Link.

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