Viktor Frankl über die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Existenz

Der Holocaust-Überlebende, Psychiater und Philosoph Viktor Frankl (1905-1997) stellt in seinem Werk Ärztliche Seelsorge eine praktische Grundlegung der Frage dar, was es heißt als Mensch zu existieren. Im Zentrum steht dabei eine Antwort auf eine verbreitete Form der Resignation, nämlich die Antwort auf den Nihilismus bezüglich der Rolle von Werten sowie der grundsätzlichen Möglichkeit eines Lebenssinns.

Das Problem ›Lebenssinn‹

Bereits in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann ein zunächst vernachlässigbarer Seitenzweig der psychologischen Forschung auf die Problematik eines Phänomens hinzuweisen, das heutzutage allgegenwärtig zu sein scheint: Sinnkrisen, Zweifel am Sinn des alltäglichen Lebens, allgemeiner Werteverlust.

Von Frankl zunächst unter dem Begriff der ›noogenen Neurose‹ beschrieben, zeige sich hier ein durch existenzielle Leere ausgelöster Leidensdruck, der 1964 auch durch empirische Belege gestützt eine nun etablierte Forschungswelle zur Psychologie des Lebenssinns angestoßen hat [1].

Daten aus den Jahren 2015 bis 2018 belegen: Die Zahl der Sinnkrisen ist deutlich angestiegen. […] Während zuvor der Spitzenwert in der Lebensmitte lag, sehen wir jetzt, dass Sinnkrisen am häufigsten bei jungen Menschen auftreten. Im Alter von 16 bis 29 liegen sie bei 27%! Auch im mittleren Alter sind sie mit 15-17% noch hoch ausgeprägt. [2, S. 119f.]

Im Zuge einer von Narabo durchgeführten Umfrage für das Projekt Wegweiser aus dem Jahr 2019 konnten wir die Ergebnisse vorangegangener repräsentativer Befragungen bestätigen, die zeigen, dass ca. 15-20% der Schüler*innen Sinnverlorenheit und ca. 30-50% Sinnindifferenz empfinden.

Unter eine existenziellen Leere fallen genau jene Resignation des Nihilismus bezüglich der Rolle von Werten sowie der als Last empfundene Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit eines Lebenssinns. Eine Sinnkrise empfinden Personen, die ihrem Leben keine geschätzte Bedeutung und keinen Sinn abgewinnen können, weshalb sie teils aktiv nach etwas suchen, das ihrem Leben einen Sinn oder Zweck geben wird. Oftmals fühlen sie eine tiefe innere Leere und den damit in Verbindung stehenden Drang, diese auszufüllen. Diese innere existentielle Leere stellt gewöhnlich einen großen Leidensdruck dar.

Sinnindifferenz beschreibt die Einstellung von Personen, die ihr Leben ohne eine geschätzte Bedeutung und einen Sinn erleben und seine potenzielle Bedeutung oder eine Suche nach Sinn auch nicht aktiv erforschen. Insgesamt finden sinnindifferente Personen die Idee, über ihr Leben nachzudenken, überhaupt nicht wichtig, selbst wenn sie mit Leid konfrontiert werden.

Die Ausgangsfrage, die dieser Gruppe von Phänomenen zugrunde liegt, ist an sich jedoch kein Ausdruck einer Pathologie, will heißen: Wer am Sinn des Lebens zweifelt, ist deshalb nicht krank, sondern zeigt laut Frankl damit vielmehr das Verlangen nach einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis auf, das aus verschiedenen Gründen nicht erreicht werden kann.

Das Stillen dieses Bedürfnisses ist im Vergleich zu Gesellschaftsumständen und -konstellationen vergangener Jahrhunderte für große Teile des modernen Lebens immer schwieriger geworden. Der Ausbruch der Moderne im Zuge der industriellen Revolution und der mit ihr verknüpften Entwicklungen hat auch etablierte Sinnzusammenhängende aufgewühlt. Ein Prozess, der im Verlauf des Aufbaus der heutigen hochindustrialisierten Gesellschaften nur gravierender geworden ist.

Ehemalige Monopole der Sinnerfüllung, darunter die von Tradition und Religion dominierten Lebens- und Gesellschaftsordnungen, haben ihren ehrbaren Platz an der Spitze der Beantwortung von Orientierungsfragen eingebüßt. Ein verlässlicher Ersatz hat sich jedoch nicht ausbilden können.

Stattdessen verzeichnen wir im 21. Jahrhundert einerseits eine erstaunliche Pluralisierung weltanschaulicher Überzeugungen bis hin zum Boom esoterischer und spiritueller Rückzugsorte für die Nöte und Fragen des modernen Menschen, andererseits sind wir mit einer besorgniserregenden Polarisierung im Gefecht für Antworten auf die Fragen bezüglich zukünftiger Lebens- und Gesellschaftsentwürfe konfrontiert:

„Dem Menschen sagt nicht, wie den Tieren, ein Instinkt, was er tun muß, und heute sagen ihm auch keine Traditionen mehr, was er tun soll; bald wird er nicht mehr wissen, was er eigentlich will, und nur um so eher bereit sein, zu tun, was andere von ihm wollen, mit anderen Worten, er wird anfällig werden gegenüber autoritären und totalitären Führern und Verführern.“ [3, S. 37]

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Anhaltspunkte des Sinns

Frankls Ausführungen in seinem Werk Ärztliche Seelsorge bemühen sich um eine Anweisung zur Lösung des eben beschriebenen Problems. Dies geschieht, indem er die Bedingungen der menschlichen Existenz in einer Weise aufgreift, die für die Existenzphilosophie charakteristisch ist: Der Startpunkt zur Lösung setzt bei den spezifischen Merkmalen des Existenzverhältnisses an, auf deren Basis sich ein weiterführendes System aufbaut.

Dieses System soll uns eine Antwort auf die Frage liefern, was es heißt als Mensch zu existieren und damit verdeutlichen, wie wir die auftretenden Spannungen und Schwierigkeiten in unserem Leben navigieren können.

Klar ist, dass wir bestimmte Bedingungen der menschlichen Existenz als Einschränkungen und Übel wahrnehmen. Zu diesen zählen wir die Verletzlichkeit des Menschen als verkörpertes Wesen, die sich in unserer Sterblichkeit und dem letztendlichen Tod zeigen. Der vergrößerte Kontext der Bedingungen menschlicher Existenz umfasst zudem die universelle Erfahrung der Angst, Verzweiflung und Einsamkeit.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens, bzw. nach dem Sinn des menschlichen und je individuellen Lebens wurzelt in der Konfrontation mit diesen Bedingungen. Sinn zu finden, bedeutet oft, dass man in die Lage hineingewachsen ist, sich mit den universellen Nöten, Leiden, Freuden und Werten des menschlichen Lebens versöhnen und sie gleichsam in das eigene Leben integrieren zu können.

Frankls System liefert einen Ansatz, um diesen Prozess verstehbar zu machen. Sein System errichtet sich auf der Basis einer Verknüpfung von Verantwortlichkeit und Freiheit mit der Zeitlichkeit unserer Existenz:

„Die Endlichkeit, die Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesensmerkmal des menschlichen Lebens, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. Der Sinn menschlichen Daseins ist in seinem irreversiblen Charakter fundiert. Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und Einmaligkeit verstanden wird.“ [3, S. 119]

Der Verknüpfung von Verantwortlichkeit und Freiheit mit der Zeitlichkeit unserer Existenz geht der Gedanke voraus, dass das menschliche Leben, Handeln und letztlich auch die Sinn- und Lebenserfüllung gerichtet sind, und zwar „gerichtet auf die jeder einzelnen menschlichen Person vorgegebene, vorbehaltene, aufgegebene Wertmöglichkeit, um deren Verwirklichung es im Leben geht“ [3, S. 34].

Unsere Freiheit des Handelns schließt die Verantwortlichkeit des Handelns mit ein. Indem wir Handlungen in unserem Leben verwirklichen, entscheiden wir uns zugleich – bewusst oder unbewusst – für oder gegen andere Handlungsoptionen, auf die unser Handeln hätte alternativ abzielen können. In diesem Augenblick des Handelns liegt bereits ein Sinn vor. Es ist der Sinn des Für und Wider in Bezug auf das eigene Handeln, das sich Stück für Stück zu einer persönlichen Erzählung der eigenen Lebensgeschichte zusammenfügt.

„Doch herrlich ist es: zu wissen, daß die Zukunft, meine eigene und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich, irgendwie – wenn auch in noch so geringem Maße – abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche, was ich durch sie »in die Welt schaffe«, das rette ich in die Wirklichkeit hinein und bewahre es so vor der Vergänglichkeit“ [3, S. 78]

Jede einzelne Handlung, mit der wir uns auf die Welt beziehen, um dort etwas von Wert entweder zu erfahren, zu ermöglichen oder zu verwirklichen, ist – sofern die Handlung im Licht der Verantwortlichkeit betrachtet wird – Bestandteil eines eigenen Lebensentwurfs.

Wir verfolgen Ziele und Pläne, haben Ambitionen und Wünsche − wir wollen, dass sich unser Leben in einer bestimmten Weise entwickelt, sich bestimmte Zustände einstellen und bestimmte Erfolge sichtbar werden. Zweifeln wir am Sinn des Lebens, so erwarten wir entweder, dass sich ein Sinn von außen auf unser Leben auferlegt und es auf magische Weise in einen sinnvollen Zusammenhang emporgehoben wird, oder: Wir übersehen bzw. schätzen jenen Sinn gering, der sich in jeder einzelnen Handlung unseres Lebens bereits einstellt, und zwar in der Form von Werten.

Indem wir schöpferische Werte verwirklichen, erfüllen wir Sinn durch unser Tun; indem wir Erlebniswerte aufnehmen, erfüllen wir Sinn durch die Hingabe an die Schönheit von Natur, Kunst und Liebe; indem wir uns Einstellungswerten verschreiben, erfüllen wir Sinn dadurch, wie wir uns zu etwas in der Welt beziehen [vgl.: 3, S. 91ff.].

„Sobald wir aber die Einstellungswerte in den Bereich möglicher Wertkategorien einbezogen haben, zeigt es sich, daß die menschliche Existenz eigentlich niemals wirklich sinnlos werden kann: das Leben des Menschen behält seinen Sinn bis »in ultimis« – demnach solange er atmet; solange er bei Bewußtsein ist, trägt er Verantwortung gegenüber Werten und seien es auch nur Einstellungswerte.“ [3, S. 93]

Was das Problem der Sinnkrise, des Zweifels am Sinn des alltäglichen Lebens sowie des allgemeinen Werteverlusts in modernen Gesellschaften zunehmend antreibt, ist gerade jener Zustand der Blindheit gepaart mit einer von Leistungsdruck, Schnelllebigkeit und einer Überschwemmung von Handlungsoptionen untermauerten Ohnmacht.

Existenzielle Indifferenz wird in erster Linie eben nicht davon angetrieben, dass Menschen sich weigern, ihrem Leben Autonomie zu verleihen, ebenso wie Sinnkrisen in der Regel nicht dadurch entstehen, dass Menschen sich weigern, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen.

Ersteres entsteht dadurch, dass man dem eigenen Leben keine Autonomie vergeben kann, weil die erdrückenden Gefühle der Entfremdung und Machtlosigkeit dominieren [vgl.: 2, S. 144.]. Analog entsteht Letzteres dadurch, dass man im eigenen Leben keinen Sinn erkennen kann, weil die eigene Perspektive auf den inhärenten Wert von Handlungen, Zuständen und Einstellungen in der Welt getrübt ist.

Gerade dies ist ein Paradox der Moderne: In einer Zeit, die wohl noch nie dagewesene Möglichkeiten des Tuns, Erlebens und Einstellens bereithält, fällt das Tun, Erleben und Einstellen zunehmend schwerer. Der Sinn wird knapp und die Frage laut, was gegen dieses Problem zu tun ist.

Einmaligkeit und Einzigartigkeit

Die skizzierten Möglichkeiten der Sinnerfüllung führen uns zu einem Licht am Horizont: Wer Sinn sucht, findet diesen in einem Leben, das man wahrlich authentisch nennen könnte. Frankl betont die Grundlage dieser Authentizität rückgreifend auf die Idee der Einmaligkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Existenz, die wir in einem eigenen Lebensentwurf fortführen müssen.

Betrachten wir den einzelnen Menschen, so wie dieser faktisch als existierendes Wesen ist, dann müssen wir unweigerlich feststellen, dass die Existenz jedes Menschen einzigartig und einmalig ist. Die Eigenschaft der Einzigartigkeit kommt der menschlichen Existenz zu, weil eine konkrete Person niemals durch eine andere ausgetauscht werden kann, ohne dass dabei ein bestimmter Inhalt verloren geht, den die ausgetauschte Person zuvor der Welt hinzugefügt hat.

Dies wird deutlich, wenn wir uns zwei Menschen vorstellen, die in jeder erdenklichen Weise identisch sind. Wie auch immer wir diese beiden Personen vergleichen, es bleibt letztlich unmöglich zu sagen, dass die beiden Personen zur selben Zeit dieselbe Handlung ausführen.

Das Handeln dieser zwei identischen Personen kann nicht ohne einen unvermeidbaren Rest auf ein einziges Handeln reduziert werden, weil die beiden Personen notwendigerweise als räumlich und zeitlich unabhängig voneinander existierende Wesen in einen jeweils anderen Lebenszusammenhang eingebettet sind.

Dies führt uns zur Eigenschaft der Einmaligkeit. Die Eigenschaft der Einmaligkeit kommt der menschlichen Existenz zu, weil eine konkrete Person sich stets in einer spezifischen Lebenssituation befindet, die niemals nachgeahmt oder rückgängig gemacht werden kann.

Der Umstand, dass ich in diesem Moment diese Zeilen schreibe, wird durch die freie Entscheidung, genau dies zu tun, ein Fakt meines Lebens. Diesen Fakt kann ich nicht rückgängig machen, ich kann ihn nicht verändern, sobald ich mich frei entschieden habe, so zu handeln.

Dass jede Person spezifische Möglichkeiten der Wertschöpfung in dieser Welt besitzt, die von keiner anderen Person ersetzt oder nachgeahmt werden können, macht ihre Einzigartigkeit aus. Dass diese Möglichkeiten der Wertschöpfung für jede Person irreversible Akte des Lebens sind, macht deren Einmaligkeit aus.

Um nun auf authentische Weise sagen zu können, dass ich mein Leben führe, müssen wir die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der jeweils eigenen Existenz begreifen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, denn es gibt keine feste Bestimmung, keine Definition des Menschen.

Als Menschen müssen wir unser Leben entwerfen. Das eigene Leben überhaupt entwerfen zu können, setzt voraus, dass man sich die Rahmenbedingungen des menschlichen Daseins vor Augen führt und somit den Grundsatz der Einmaligkeit und Einzigartigkeit annimmt.

Zugleich ist dieser Entwurf des Lebens stets verbunden mit einer Verantwortlichkeit in allen Entscheidungen. Ich trage als Mensch Verantwortung durch die einmalige und einzigartige Existenz: Niemand kann mich in meinem Leben ersetzen, niemand kann die Entscheidungen in meinem Leben treffen, die dort als Möglichkeiten angelegt sind und auch nicht meine Pflichten und meine Verantwortlichkeit übernehmen.

Wo liegt aber der Sinn in jenen Dingen, die wir nicht kontrollieren können? Wir gelangen zu einem wegweisenden Schluss, sobald wir die Freiheit in der menschlichen Existenz mit den sich darin befindenden unfreien Komponenten kontrastieren. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue und feststelle, dass mir dieses Ereignis und jenes Unglück zugestoßen ist, d.h. mein Leben auf scheinbar arbiträre Weise in diese und jene Umstände eingebunden ist, dann sind wir geneigt, uns der Übermacht dieser schicksalhaften Natur des eigenen Lebens zu beugen.

Unser aller Schicksal ist es geboren zu werden, ohne dies beeinflussen zu können sowie unter Verhältnissen aufzuwachsen, die wir lange Zeit nicht selbst bestimmen können. Wir nehmen unweigerlich an einer genetischen Lotterie teil, mit deren Ergebnis wir leben müssen und sind zudem für viele Jahre unseres Aufwachsens der Umgebung, in der wir leben, ausgesetzt.

Doch der Entwurf des eigenen Lebens durch die menschliche Freiheit bäumt sich gegen die scheinbare Determination der eigenen Existenz auf. Es ist durch die Freiheit des Mensch-Seins, dass wir Verantwortung übernehmen für unser Leben und unser sinngeleitetes Handeln: „Das Schicksal, das ein Mensch erleidet, hat also erstens den Sinn, gestaltet zu werden – wo möglich -, und zweitens, getragen zu werden – wenn nötig“ [3, S. 162].

Quellen und Verweise

[1] Siehe: Crumbaugh, J.; Maholick, L.: An experimental study in existentialism: The psychometric approach to Frankl’s concept of noogenic neurosis, in: Journal of Clinical Psychology, Vol. 20, Nr. 2, 1964, S. 200-207.

[2] Schnell, Tatjana: Psychologie des Lebenssinns. Berlin: Springer, 2. Auflage, 2020.

[3] Frankl, Viktor: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. München: dtv, 2007.

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