Eine Annäherung an aztektische Philosophie

Interkulturelles Philosophieren stellt uns vor Herausforderungen, die für jeden Fall, d.h. für jedes kulturelle Umfeld, neu berücksichtigt werden müssen. Im Allgemeinen bedarf dieser Ansatz immer einer genauen vorgelagerten Rekonstruktion und Interpretation der Quellen und der lebensweltlichen Beschreibung, die man als eine Kultur herausgreift.

In der lebensweltlichen Beschreibung gehe es darum, die Menschen und ihre Artefakte und somit Gedachtes und Materielles in Verbindung zueinander darzustellen [1]. Vor diesem Hintergrund warnt der Philosoph James Maffie in seinem Buch Aztec Philosophy Understanding a World in Motion davor, durch eine bestimmte Vorstellung von Philosophie in Logiken der Gegenüberstellung zu verharren:

„Die aztekische und die europäische Philosophie repräsentieren zwei alternative philosophische Orientierungen, die in zwei alternativen Lebensformen oder Arten des Menschseins in der Welt verwurzelt sind. Die aztekische Philosophie muss die europäische Philosophie nicht nachahmen, um als „echte“ Philosophie zu gelten. Es gibt kein Gesetz der Vernunft, des Denkens oder der Kultur, das verlangt, dass alle Völker gleich denken oder denselben Weg der philosophischen Entwicklung gehen. Manchmal wird auch argumentiert, dass die Religiosität der Azteken ihr philosophisches Denken ausschloss. Die Philosophie beginnt, wie die Selbsterzählung des Westens oft sagt, dort, wo die Religion endet. Diese Sichtweise geht jedoch davon aus, dass sich Religion und Philosophie gegenseitig ausschließen. Die Religiosität der Azteken hinderte sie nicht mehr daran, Philosophie zu betreiben, als die Religiosität von St. Augustinus, Maimonides, St. Aquinas, Ockham, Descartes, Spinoza, Kant oder Whitehead.“ [2, S. 8]

Die ethnologischen Untersuchungen zu Gottesvorstellungen verschiedener Kulturen sind oft bei der Beschreibung von Religionssystemen und Weltanschauungen stehengeblieben. Die Möglichkeit, dass hier auch philosophische Elemente eine Rolle spielen könnten, wurde weitgehend ausgeklammert.

Der Blick in die aztekische Philosophie zeigt uns eine Möglichkeit, den Begriff der Natur und die Strukturen der Realität in einer gänzlich verschiedenen Weise zu konzeptualisieren, als wir es aus westlichen Metaphysiken gewohnt sind.

Die Metaphysik der Azteken ist eine ohne Hierarchien zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, ohne einen Dualismus zwischen Geist und Materie, ohne eine Vorstellung von Ewigkeit und Permanenz und ohne eine Trennung in sakral und profan.

Warum haben aztekische Gottheiten eine wandelbare Gestalt?

Von aztekischer Philosophie zu sprechen, setzt zumindest das minimale Eingeständnis voraus, dass (i) Philosophie keine für den westlichen Kulturkreis reservierte Praxis ist und (ii) die aztekische Religion bzw. Weltanschauung auf einer Basis stehen kann, die reflexiv ist und ausgehend von bestimmten Prinzipien denkt.

Links: Wasser-Gottheit (Chalchiuhtlicue), Mitte: Klammeraffe mit Wind-Gottheit Regalia, Rechts: Gottheit des Maises und der Erde (Chicomecoatl). Zeitspanne: 13. Bis 16. Jahrhundert, Mittelamerika. Quelle: The Met Collection API.

Maffie argumentiert in seinem Buch, dass die Azteken eine Metaphysik besaßen, die auf der ontologischen These basiere, dass nur eine Entität existiere: eine kontinuierlich dynamische, lebendige, sich selbst erzeugende Kraft oder Energie, die sie als Teotl bezeichneten [2, S. 23].

Die Realität werde durch einen Prozess des Werdens, der Veränderung, Vergänglichkeit und Transformation definiert. Teotl ist identisch mit allem, das existiert.

Entsprechend sind auch die verschiedenen Gottheiten des aztekischen Pantheons allesamt als bloße ›Verklärungen‹ dieser einzigen, undifferenzierten göttlichen Kraft zu sehen. Sie sind keine Individuen, sondern bestimmte Qualitäten von Naturprozessen und -kräften. Die Azteken gingen von der Vorstellung aus, dass das Göttliche fließend, sich endlos selbst transformierend und formbar sei, also eine Art Kontinuum ist.

Die Vorstellung, dass die Azteken einen analog zur griechisch-römischen Tradition zu verstehenden Pantheon besaßen, sei Maffie zufolge eine Fehlinterpretation. Sie geht aus den Überlieferungen der christlichen Kolonialisten im 16. Jahrhundert hervor, die ihrem eigenen Weltbild folgend versucht haben, das zu verstehen, was die Azteken tun und woran diese ›glauben‹.

Das Denken in Kontinuitäten erkläre – ganz im Gegensatz zur christlichen Gottesvorstellung – die Fähigkeit der aztekischen Gottheiten, ineinander zu verschwimmen und sich gegenseitig zu absorbieren, sowie ihre Fähigkeit, sich scheinbar zu integrieren und gegensätzliche Qualitäten zu verkörpern [2, S. 91].

Die Tatsache, dass aztekische Künstler*innen in den von ihnen hergestellten Objekten verschiedene Aspekte von Teotl anthropomorph darstellten, bedeute nicht, dass sie glaubten, dass diese Darstellungen für unterschiedliche Figuren menschlicher Gottheiten standen. Und die Tatsache, dass elitäre und gewöhnliche aztekische Rituale verschiedene klar eingegrenzte Elemente  – wie Sonne, Erde, Mais, Wasser und Wind – aus der Gesamtheit von Teotl aussonderten und abstrahierten und diese Elemente als einzelne Geister oder Gottheiten behandelten, impliziere Maffie zufolge nicht, dass sie einen Polytheismus angenommen haben.

Im Gegensatz zu der Vorstellung der Natur als eine Ansammlung lebloser Materie und ihre Trennung von lebedingen Organismen, die sich im westlichen Kulturraum durchgesetzt hat, basiert die aztekische Philosophie auf einem Animismus. Die Welt sei nicht unbelebt und werde dann durch organische Prozesse belebt, sondern ist von Vornherein lebendig und vitalisiert.

Daher ergibt sich auch die Überzeugung, dass die Realität nicht in zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Dingen unterteilt ist: belebt versus unbelebt, Geist versus Materie oder Geist versus Körper. Das jüdisch-christliche Denken beginnt mit dem Axiom einer Trennung zwischen Geist und Materie. In der aztekischen Philosophie gibt es diese Trennung nicht, da sie alles Existierende aus ein und demselben Lebensprinzip heraus denkt.

Somit sehe die aztekische Metaphysik keinen wesentlichen metaphysischen Unterschied zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen ihrer Gottheiten. Sie betrachte die Vielfalt künstlerischer Bilder als Darstellung verschiedener Gesichter oder Aspekte von Teotl [2, S. 90].

Quellen

[1] Vgl.: Hahn, Hans Peter: Dinge erkennen. Materialität und die Formierung der Ethnologie als Wissenschaft, in: Objektepistemologien. Zur Vermessung eines transdisziplinären Forschungsraums. Hilgert, Kerstin et al. (Hrsg.). Berlin Studies of the Ancient World, 2018, S. 80.

[2] Maffie, James: Aztec Philosophy Understanding a World in Motion. Boulder: University Press of Colorado, 2014. Eigene Übersetzungen.

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